Landschaft des Lebens

08/29/2022

Landschaft des Lebens

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Meine Beine sind kalt und ich öffne die Augen. Ein klebrig brauner Matsch hat sich um meinen Körper gewoben. Ich versuche ihn los zu werden, mit aller Kraft ziehe ich an meinen Beinen, aber nichts bewegt sich. Ich will weg, bin aber im Matsch erstarrt. Alles was mir bleibt ist meine Stimme. “Mach den Mund auf, schrei, lass es raus!” sage ich mir. Ich tue es, gebe noch einmal alles.

Mein Atem verklingt in der Ferne. Dann Stille. Ich senke meinen Kopf, gebe auf. Lasse den braunen Matsch um mich herum immer dicker und schwerer werden und nehme ein leises Hilfe in meinem Kopf wahr. Das ist alles.

Eine Berührung. Ein Gefühl an meiner Schulter. Ich merke den Druck deutlich, ich hebe meinen Kopf nach oben und sehe einen Menschen. Ein Gesicht, zwei Augen, eine Nase, Haare und ja einen Mund. Ein wunderschöner Mund mit einem Lächeln. Ich sehe eine ausgestreckte Hand und greife sie mit meiner letzten Energiereserve. Langsam zieht sie mich nach draussen. Auf den Pfad neben der Matschgrube.

Ich atme tief und schnell, mein Herz rast unter meiner nassen matschigen Kleidung. Das Matschloch zeigt kleine Blubberblasen, die nacheinander zerplatzen. Puff, puff, puff… Der Boden schließt sich, wenn die letzte Blase weg ist. Der Matsch sieht nun unberührt aus, als ob nichts passiert wäre. Meine Gedanken kreisen wild hin und her und ein einziger Gedanke manifestiert sich in meinem Herzen.

“Heute nicht” spüre ich in mir. “Noch nicht.” Es ist eine liebevolle Stimme in mir, weder fordernd noch mahnend. Sie ist einfach da und macht sich in mir breit. “Noch nicht.”

Ich stehe auf und streife den nun getrockneten Matsch von meiner Hose ab. Ich richte mich auf, spüre meine Knochen und mein Rückgrat. Gebe meinen Beinen einen Impuls und wage einen Schritt. Nur einen.

Es tut wieder gut zu gehen. Bewegung ist nicht nur Lebendigkeit im meinem Körper, sondern sie löst mit jedem Schritt auch etwas in meinem Geist. Jeder Schritt auf dem weichen Boden unter mir federt mich ab und hilft mir einen weiteren zu wagen.

Ich sehe einen kleinen Weg vor mir, ja es ist ein Weg, der irgendwohin führen muss. Ich kann noch nicht sehen, wohin er führt, aber das macht nichts. Jetzt gehe ich erst einmal. Einen Schritt nach dem anderen, nehme die Bewegung in meinen Armen wahr, höre mein Herz schlagen. Leise, aber kräftig. Mein Kopf wippt sachte auf und nieder, ganz im Gleichschritt zu meinem Gang. Auf und ab, auf und ab. Das leichte Schwanken gibt meinem Nacken wieder Kraft und meinen Muskeln Mut. Mut den Kopf zu heben und meinen Blick auf vorne zu lenken.

Ich sehe ein offenes Feld vor mir und weitere Bewegungen neben, vor und wenn ich meinen Kopf drehe, auch hinter mir. Die Grashalme hier und da wehen gelblich im Wind und schütteln sich wie kleine Kinder mit nassen Haaren. Mein Augenlicht wird stärker und ich erkenne, dass die Bewegungen um mich herum ähnlich der meinen sind. Ich versuche, zu erkennen, was oder wer es ist. Ich verspüre einen Drang, auf eine Figur hinzulaufen, versuche näher zu kommen, aber die Figur läuft ebenfalls im selben Moment. “Nein, Halt. Lauf doch bitte nicht weg! Ich tu dir doch nichts.” Erschöpft bleibe ich stehen. Ich bin außer Atem. Meine Füße fühlen sich an wie Wackelpudding und ich lassen meinen Kopf hängen.

Mein Blick fällt auf den Untergrund, der seine fröhlich gelbe Farbe verloren hat. Ich sehe den Matsch unter den Grashalmen, die nicht mehr wehen. Es ist windstill geworden. Der Boden wird weich und ich sacke langsam ein. “Nein, nicht schon wieder.” denke ich. Ich kenne diesen braunen Schlamm, der mir die Kraft zum Stehen nimmt. Ich kenne die Hilflosigkeit, die mich festhält wie eine böse Stiefmutter. “Komm schon, Du hast es bereits einmal geschafft. Du schaffst es jetzt auch noch einmal. Denke an die Stimme, Deine innere Stimme.” Ich versuche zu atmen, langsam, ich zähle von 300 rückwärts um meinen Herzschlag zu bremsen und ich versuche mich zu erinnern. Nichts scheint zu helfen, meine Füße werden weiter vom Matsch umschlungen. Was soll ich tun? Ich fühle mich alleine, alleine gelassen, verlassen. Angst steigt in mir auf, Trauer darüber, dass ich schon wieder fest stecke. Eine Träne rollt mir über meine Backe und ich sehe sie zu Boden fallen. Der Boden, der mich nach unten ziehen will, fängt meine Träne auf. Ich sehe ihr zu, sie versinkt nicht, sie bleibt wie eine Perle auf der Oberfläche. Ich beuge mich weiter hinunter und sehe mein Spiegelbild in ihr. Ich sehe eine Frau mit neugierigen Augen: “Wer bist Du? Was willst Du von mir?”

“Ich will, dass Du Deinen Weg weiter gehst.” Höre ich in mir. “Es liegt immer mal Matsch auf dem Boden, aber nicht jeder Untergrund ist gefährlich. Nimm Dir Zeit die schönen Stellen auf dem Weg zu betrachten.” Schöne Stellen? Andere Stellen? Nicht hier? Ich richte mich auf und sehe den Weg vor mir. Ja es ist der Weg wie vorher und ich erkenne, dass er weiter führt. Mal gibt es lange gelb leuchtende Grashalme, mal gibt es Matsch. Dort hinten leuchtet auch ein Teich in blauen Farben. Die Sonne taucht auf und erhellt die Landschaft um mich herum und lädt mich ein, weiter vorwärts zu gehen. Wieder vorwärts zu gehen.

Die Figuren von vorher kommen zurück. Diesmal laufe ich nicht panisch auf sie los, sondern beobachte, was sie machen und stelle fest, auch sie bleiben ab und zu stehen, schütteln sich, klopfen den Matsch ab und gehen weiter. Plötzlich höre ich eine Stimme, jemand schreit. Ich drehe mich zur Seite und sehe eine Person bis zur Hüfte im Matsch stecken und gehe auf sie zu. Automatisch strecke ich ihr mit einem Lächeln meine Hand hin, die sie fest zudrückt. Ich ziehe an ihr und purzel nach hinten auf den Boden. Auch sie ist auf dem Boden, atmet laut. Neugierig beuge ich mich vor und sage zu ihr. “Noch nicht.”

Das Leben ist ein auf und ab. Mal verlieren wir Energie, weiter zu machen und ein anderes mal geben wir jemand anderem Energie. Es ist ok, mal anzuhalten und traurig zu sein und es ist ok, nach Hilfe zu bitten. Es ist ok, sich selbst im Spiegelbild zu sehen und den Weg wieder aufzunehmen. Es ist ok, neue Begegnungen zu erleben, neue Menschen zu treffen und gemeinsam ein Stück zu laufen. Vielleicht erkennen wir, dass wir alle ein Stück gleich und verbunden sind.

Ich wünsche allen, dass sie die innere Hand spüren und diese auch ab und zu mal selbst ausstrecken, damit Zuversicht und Hoffnung weiter einen Platz in unserem Leben haben.

copyright Brigitta Brain, 2022

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